Die besten Geschichten schreibt das Leben. Und strukturiert sie in drei Akte. Die von Wolfgang Hess passieren in Berlin, Kyoto, Liebenau. Reichlich Spannung bringen Gegensätze. Hess hat sie für sich aufgelöst und hilft nun anderen dabei – in seinem Zenkloster in Schloss Eickhof, einem Ort der Stille und Ästhetik, gelegen zwischen Bremen und Hannover.
Im Mund von Menschen zu operieren, ist nicht jedermanns Sache. Das merkte auch Wolfgang Hess. Brauchte dafür aber einige Jahre. Als Doktor der Zahnmedizin war er in den 70ern und 80ern in Berlin tätig. Er gehorchte dem Wunsch der Eltern – der Junge musste ja was Vernünftiges lernen – und weniger der eigenen Überzeugung. Eine Berufung war es nicht.
Schon eher Immobilien. Er handelte damit, nebenbei, wie zur Ablenkung. Nach den Sprechzeiten raus aus dem Kittel und zum nächsten Deal. Unter Immobilienhaien war Hess einer mit scharfen Zähnen. „Ich war ein Riesenkotzbrocken. Ständig gereizt und streitlustig“, erzählt er. Ihn trieb die Gier nach Geld und Glück. Mammon regierte und die Summe auf dem Konto war irgendwann so groß wie das Ego. Aber für ein Leben in Extremen bezahlt man einen Preis. Der von Wolfgang Hess war das, was man heute Burnout nennt. Mit 42 schmiss er hin. Finanziell konnte er sich das leisten.
Es war 1996, ein paar Jahre später, in einer Berliner Buchhandlung, als er nach einem Geschenk suchte. Er entdeckte diesen Band. Mit farbenprächtigen Bildern über japanische Gärten. Von einer Sekunde auf die andere war er angefixt. „Schatz, wir müssen nach Japan. Gärten angucken”, sagte er zu Hause seiner Frau Marianne. „In Zenklöstern gab es die beeindruckendsten. Sie hatten einen Ausstrahlung, die sich nicht allein mit Gartenkunst erklärt. Mir war klar, dass sie tief im Zen verwurzelt ist.“
Anstatt sein Vermögen mit Cocktails unter Palmen zu verjubeln, entschied sich Hess für die Bescheidenheit. Schon früher war er nach Feierabend zweimal in der Woche von Berlin nach Bremen gerast, hatte sich einem Zenkreis angeschlossen und dort Zazen, das Meditieren im Sitzen, praktiziert. Es zahlte sich nun aus. Sein Lehrer gab ihm eine Empfehlung. Die öffnete die Türen zum Zenjuku, der Schule des Myoshin-ji in Kyoto, dem legendären Hauptkloster der Rinsai-Linie des Zen-Buddhismus in Japan.
In den kommenden Jahren gab sich Hess dort das volle Programm. Im Kloster meditierte er zusammen mit den Mönchsschülern früh morgens und spät abends, je vier Stunden lang. Weg von dieser Welt führte ihn jetzt der Weg. Er ging nach innen. Konfrontation mit den Dämonen. „Wer glaubt, er entkommt in einem Kloster dem Stress, der hat in den nächsten Jahren mit Zen mehr Stress als vorher”, sagt Hess.
Aber er verfolgte immer ein Ziel – die Gärten. So wie er früher vom Zahnarzt zum Immobilienhändler und zurück gewechselt war, verwandelte er sich nun in der Mittagspause in den angehenden Gärtner und studierte sie überall in Kyoto, der ehemaligen Kaiserstadt. Als Schüler des Klosters öffnete man ihm Tore, die selbst Japanern, geschweige denn ihm als Gaijin, dem Außenseiter, verschlossen waren. Er schwelgte im Zauber des prächtigen Grüns. Das wollte er kreieren. Meditation war das Mittel zum Zweck, um dafür die eigene Intuition zu schulen.
Dann, vier Jahre später, war er offiziell Abt. Er kehrte nach Deutschland zurück und gründete sein eigenes Kloster – im Schloss Eickhof. Eine Insel der Ruhe hatten seine Frau und er bereits Mitte der 80er gesucht und zwischen Hannover und Bremen, im niedersächsischen Liebenau, gefunden. Auf seinem fünf Hektor großen Grundstück steht hier sein prächtiges Anwesen.
Im 19. Jahrhundert, genauer im Jahr 1880, hatte es Freiherr von Kalm, der Forst- und Jagdverwalter des Herzogs von Braunschweig errichtet. Geprägt durch die Architektur des britischen Südens, wählte er den Stil des Tudor Manors. Drumherum gestaltete der Adelige einen Gartenpark mit seltenen Bäumen, den er in Cornwell lieben gelernt hatte. Ursprünglich reichen die Ländereien bei Liebenau sogar zurück bis ins Mittelalter, zu den Bischöfen von Minden und den Grafen von Hoya.
Dank des neuen Besitzers hat der Park im 21. Jahrhundert eine asiatische Anmutung: Mit Grünflächen, die mit Bäumen, Steinen, Moosen, Teichen und Wasserläufen viel Gelassenheit ausstrahlen. Schließlich beherrscht Wolfgang Hess inzwischen die Kunst der japanischen Gärten genauso wie die der Zengärten. Und verliert höchstens noch die buddhistische Ruhe, wenn vermeintliche Experten beides durcheinander bringen.
Japanische Gärten sind ein Abbild der Natur im Miniaturformat. Zengärten sind ein dreidimensionales Bild, das das Wesen der Natur widerspiegelt. Bei letzterem öffnet der Betrachter idealerweise wie beim Koan, einem verbalen Rätsel, den Geist. „Er erkennt, dass er nicht der Betrachter ist, sondern durch das Erkennen Teil des Garten wird und schon immer Teil der Natur war”, sagt Hess.
Wie schafft man es, aus der leeren Fläche einen Ort mit eindrucksvoller Ästhetik und tief empfundener Harmonie zu kreieren? Hess vergleicht sich mit dem Bildhauer: „Der sieht das Kunstwerk schon im Stein und haut außen alles weg. Wir stellen dagegen hin, damit es sichtbar wird. Manchmal ruft uns ein Stein. Nimm mich. Wenn man das nicht mit Tiefe praktiziert, sondern mit Gedanken, wird der Garten nicht aussagekräftig.”
In dieser Tiefe, dem Samadhi, hört das diskursive Denken auf. Es gibt keine Gegensätze, keinen Dualismus. Keine Bewertung. Kein permanentes Streben nach irgendwas. Der Mensch erkennt, dass er selbst das Göttliche ist und Teil von allem. Es stören keine Gedanken mehr und wie im Flow der Sportler geht er voll im Tun oder dem Objekt auf. Da Meditation das Bewusstsein erweitert, sieht und erfährt er außerdem immer mehr. Nichts ist fremd, er verliert die Angst und wird toleranter.
Wolfgang Hess hat nun wieder zwei Jobs. Er ist Abt und Gärtner und mit sich im Reinen. Wenn er sich überhaupt noch von etwas beherrschen lässt, dann von der inneren Stimme. Sein Zenkloster in Liebenau ist ein heilsames Naturparadies, ganz weit weg vom Trubel der Großstadt. Es vereint die beiden ersten Akte seines Leben, den europäischen mit dem asiatischen. Wer im Teehaus nahe des Teiches meditiert, glaubt sich als japanischer Mönch. Wer im Saal des Schlosses diniert, fühlt sich als britischer Lord.
Im Zenkloster wird Zen praktiziert und das in einer Oase der Stille. Allerdings nicht mit dem strengen Regiment, das Hess noch aus Kyoto kennt. Es geht nicht um Erleuchtung, sondern um die Stärkung von Körper und Geist. Zen hilft dabei, aus der Sackgasse von Denken und Abhängigkeiten zu befreien. Schüler sollen lernen, dass es noch eine andere Welt gibt. Eine, die nicht durch Erfolg und Ansehen geprägt ist.
Wie beim „Ora et labora“ der christlichen Mönche wechselt auch im Zenkloster Liebenau die Periode des Tages permanent ab – zwischen Meditation, der Innenschau, sowie Arbeit am und um das Kloster. Denn auch Routine schafft Ruhe. Ebenso helfen Chado, die zelebrierte Zubereitung des Tees, oder Samu, die meditative Gartenarbeit, oder Tai Chi durch Achtsamkeit das Bewusstsein zu schärfen, den Geist zu leeren, sich in Schwerelosigkeit zu verlieren, zur inneren Einsicht zu kommen. „Zen erledigt man nicht mit dem Geist“, sagt Hess. „Man muss es erfahren.“
Dafür empfängt er Zentouristen, wie er sie nennt, und Klosterschüleranwärter, die an Kursen teilnehmen. Einige, wie Novize Noah, leben länger im Schloss, aber nicht für immer. „Die Menschen sollen nicht zenverblödet werden“, so Hess. „Sonst verlieren sie den Kontakt zur Welt und kommen mit der Mentalität draußen nicht mehr klar.”
Außerdem gestaltet er mit seiner Firma japanische Gärten oder Zengärten für private Auftraggeber und Unternehmen. Immer intuitiv. „Ich muss mich in den Menschen hineinfühlen. Ich will ihm seinen Garten kreieren. Und nicht einen, der mir gefällt.“ Kunden, die ihm nicht sympathisch sind, sagt er ab. Ihr Geld lässt er lieber sausen. Die Muse hat den Mammon besiegt. Die Antwort, die er gibt, ist klar wie die Ästhetik seiner Kunst: „Ich kann Sie nicht so lieben, dass ich Ihnen einen schönen Garten machen kann.“
Ein Koi zieht im Teich hinterm Kloster seine Runden. Damit sich das schwimmende Juwel nicht einsam fühlt, ist dem Hofstaat an Goldfischen gestattet, seinen kleinen Ozean mit ihm zu teilen. In Japan ist seine Art Legende. Kein Tier symbolisiert Nippon wie der edle Karpfen, farblich gleicht manches Exemplar der Flagge der Nation. In Liebenau jedoch hat ihm Herrchen einen Namen verpasst, der deutscher nicht sein könnte. Der Koi heißt Karl-Heinz. Zenmeister lösen eben nicht alle Gegensätze auf. Manche schaffen sogar neue.