Meisterwerke der Handwerkskunst sind die Sättel des Familienunternehmens „G. Passier & Sohn GmbH“ – und das seit mehr als 150 Jahren. Die weltweite Elite der Reiterei nimmt darauf genauso gern Platz wie die gemeine Sportreiterin. Denn sie alle schätzen die Passgenauigkeit und Langlebigkeit der Unikate aus Langenhagen.
Bei Pferden ist das manchmal wie bei Menschen. Auch sie erwischt irgendwann das Rheuma. Jahrein jahraus sind sie Tausende Kilometer auf dieser Erde gelaufen. Doch dann schmerzen die Glieder und es geht einfach nicht mehr. So erging es auch dem Pferd von Ingrid Kocks. Da Ross und Reiter aber idealerweise eine Einheit bilden, entschied sich die Halterin, dass dieser Sport nun auch für sie ein Ende haben sollte. Sie bestieg nie wieder ein Pferd. Zu diesem Zeitpunkt war sie selbst schon 87 Jahre alt und nicht mehr die Jüngste. Ihr ganzes Leben hatte sie den imposanten Vierbeinern gewidmet. Schließlich lag für die Rennpferdezüchterin ihr Glück des Lebens immer auf dem Rücken ihrer Pferde. Und auf jedem dieser Rücken lag der „Olympia“ Spring-Sattel Nummer 103 444. Ein Geschenk ihres Vaters vor mehr als 60 Jahren.
Heute hängt Nummer 103 444 zusammen mit anderen Unikaten an einem Ehrenplatz im kleinen Museum des Sattelherstellers Passier am Firmenstandort Langenhagen. Wenn Geschäftsführer Dirk Kannemeier über das Leder von Nummer 103 444 streicht, ist er selbst ganz fasziniert: „Er war jeden Tag auf dem Pferd und hat nur minimale Defekte. Da sind sogar die Originalstrippen dran. Und die sind eigentlich das Verschleißteil.“ Für den 49-Jährigen ist es diese Langlebigkeit, die den Erfolg der weltberühmten Marke erklärt. Sie belegt, warum der Premiumhersteller von Reitsportsätteln mit dem eigentlich doch so abgedroschenen Wort „Qualität“ zu Recht um seine Kunden werben kann.
Lang ist die Geschichte von Passier. Vor mehr als 150 Jahren, genau am 17. September 1867, gründete Ur-Urgroßvater Georg Passier das Unternehmen. Als gelernter Sattler folgte er zu dieser Zeit seiner Zielgruppe von Berlin in die königliche Residenzstadt. Hannover galt Ende des 19. Jahrhunderts als das Mekka der Reiterei und in der Stadt an der Leine stellte die Regierung das preußische Ulanen-Regiment auf, damals ein legendärer Kavallerieverband. Georg Passier bekam die Stelle des Regimentsattlers, legte jedoch Wert auf den Status als Zivilist. Sein Ziel war die Selbständigkeit. Am Aegidientorplatz eröffnete er seine eigene Sattlerei, zog später in ein eigenes Haus an der Langen Laube 2 nahe der Königs-Ulanen und gründete eine Filiale in der Husarenstraße 4 genau gegenüber der Königlichen Offiziers-Reitschule, der später so berühmten Kavallerieschule Hannover. Das Erfolgsrezept von Passier war schon damals: Nähe zum Kunden und Güte auf höchstem Niveau. Das sprach sich herum. Der ehrgeizige Selfmademan stieg steil auf. Er wurde Hoflieferant seiner Majestät des Kaisers und Königs und anderer Hoheiten und Durchlauchten.
Generationen später hat es Ur-Urenkel Dirk Kannemeier im 21. Jahrhundert ebenfalls regelmäßig mit der Spitze der Pyramide zu tun. Seine Königinnen und Könige heißen heute Klimke, Bröring-Sprehe, von Rönne, Ehning, Krajewski, Dahlmann, Rüder oder Persson. Behängt sind auch sie mit Edelmetallen wie Gold, Silber, Bronze und viele tragen unter anderem die Krone des Welt- und Europameisters. Die Weltelite des Dressurreitsports thront nämlich am liebsten auf Sätteln von Passier – und ihre Liste ist so lang wie die ihrer Siege. Einer der ersten war Freiherr Carl- Friedrich von Langen, der 1928 doppeltes Olympiagold holte. Für Dirk Kannemeier sind diese renommierten Namen jedoch nicht nur imagefördernde Werbebotschafter, sondern auch wichtige Partner. Schließlich ist für ihn das herausragende Wissen der Profisportler nützlich, um die Sättel weiter zu optimieren.
„Während wir früher eher standardisierte Modelle fertigten, erstellen wir heute zum größten Teil Einzelanfertigungen, die hoch individualisiert und maßgeschneidert sind”, so der Geschäftsführer. Zielgruppe bei den Endverbrauchern ist die meist weibliche Sportreiterin. Neben dem wichtigen Inlandsgeschäft exportiert Passier rund 40 Prozent seiner Ware in 48 Länder, davon ein Großteil ins europäische Ausland, besonders stark nach Skandinavien und Benelux. „In Japan machen wir seit 40 Jahren exorbitante Umsätze. Wir wissen selbst nicht, wo die ganzen Produkte landen. Made in Germany ist in dieser traditionsbewussten Kultur alles. Die fragen nicht, die bestellen in Mengen. Und tolerieren nicht den Hauch eines Fehlers“, so der Chef. Ernst zu nehmende Konkurrenz in diesem hochpreisigen Segment kommt höchstens noch aus Italien. Die Südeuropäer punkten vor allem beim Design. Und können es wohl auch. „Dafür sind wir zu deutsch“, sagt Kannemeier und lacht.
Passier ist ein Familienunternehmen und soll es nach Möglichkeit auch bleiben. Nicht umsonst wurde von jeher bewusst auf Investoren und weitere Gesellschafter verzichtet. Das spiegelt sich auch in Kannemeiers Motto wider: „Ich habe es übergeben bekommen. Mein Job ist, es zu halten, wenn möglich zu mehren, um es dann weiterzugeben.“ Tochter und Sohn des Inhabers sind noch Teenager und entscheiden in ferner Zukunft über eine mögliche Nachfolge.
Auch Dirk Kannemeier wurde nicht gedrängt. Dennoch klebte er schon als 11-Jähriger bei der Dame vom Vertrieb Pakete, besserte sich in der Produktion als 14-Jähriger in den Schulferien sein Taschengeld auf und lernte wie ein Lehrling alle Abläufe kennen. Als er nach einem kurzen Intermezzo andernorts als Industriekaufmann wieder ins Familienunternehmen zurückkehrte, kannte er die meisten Kollegen der Belegschaft bereits.
Heute sind insgesamt 77 Mitarbeiter bei Passier angestellt, im Schnitt sind sie 31 Jahre alt, die längste Zugehörigkeit zum Betrieb liegt bei 42 Jahren. Für zwei neue Stellen zum Reitsportsattler bewarben sich aktuell 40 junge Kandidatinnen. Allesamt dem Pferd verbunden – wie die meisten der Beschäftigten. Mehr als kaufmännisches ist technisches Geschick gefragt, wenn Lehrlinge wie Meister für die Sattelunikate Größe, Gewicht, Beckenstellung, Ober- und Unterschenkellänge oder Leistungsstand der späteren Käuferin beachten müssen. Ebenso wie die Maße des Rückens und die Längslinie der Wirbelsäule des Tieres.
Denn auch die Pferdezucht hat sich den vergangenen 20 Jahren verändert. Wo sich früher Holsteiner, Hannoveraner oder Westfalen klar nach Rasse trennten, bringen neue Mixe anatomische Besonderheiten hervor. Für ein kompaktes Bild bei der Dressurbewertung werden die Pferderücken immer kürzer – die Gesäße von Reiterin und Reiter der heutigen Wohlstandsgesellschaft jedoch gleichzeitig nicht zwingend kleiner. Bleibt am Ende noch weniger Platz für den Sattel. Der will für den individuellen Schwerpunkt aber ideal platziert sein.
Außerdem verändern Umweltvorschriften das Leder, das Passier vor allem aus westeuropäischen Gerbereien bezieht. So wie niemand mehr Blasen mit einem neuen Schuh laufen möchte, soll auch der Sattel geschmeidiger sein als früher. Diese beiden Faktoren verkürzen jedoch die Langlebigkeit des Produktes. Zudem macht sich auch der fundamentale Umbruch im Handel bemerkbar: In dem der wirtschaftlichen Entwicklung stets etwas hinterher hinkenden Reitsport verdrängen zunehmend Ladenketten die kleinen Läden. Hinzu kommt, dass sich das Geschäft mit dem Sattel längst vom stationären Handel abgekoppelt hat. „Der Reitsattel wird am Pferd ausprobiert und nicht mehr im Laden gekauft“, so Dirk Kannemeier. Weil er mit seiner Marke dort aber weiterhin sichtbar sein möchte, setzt er zusätzlich auf die anderen beiden Säulen seiner Produktpalette: Lederzubehör und Pferdetextilien.
So kämpft jede Generation ihre eigenen Schlachten. Bei Urgroßvater Ernst Heinrich Georg Passier war es nach dem ersten Weltkrieg das Automobil, das plötzlich überall die Pferdegespanne ersetzte. Er erschloss daraufhin neue Märkte im Ausland. Großvater Georg Passier profitierte danach vom neuen Trend zum Reitsport und setzte weiter auf Maßfertigung. Das zwischenzeitliche Aus kam, als in der Nacht vom 9. auf den 10. Oktober 1943 die alliierten Bomber des Zweiten Weltkriegs das Stammhaus in der Langen Laube zerstörten. Georg Passier musste in einer Lagerhalle in Herrenhausen bei null wieder anfangen. Zwischendurch sattelte er sogar auf Lederkoffer und Ledertaschen um. Der Tradition „Handarbeit aus Meisterhand“ blieb er aber selbst im darauffolgenden Wirtschaftsaufschwung treu. Noch heute sollen Maschinen nur technische Hilfe leisten. Auf diese Weise eroberte sich der Reitsportausrüster Stück für Stück einen weltweiten Ruf. In den 80ern wuchs das Unternehmen unter Schwiegersohn Jochen A. Kannemeier weiter. Dieser setzte wegen der zahlreichen Bestellungen neben dem PS-Sattelbaum aus Holz, sozusagen das Chassis des Sattels, auch auf eine Kunststoff-Variante aus Elastomer, die schneller zu fertigen ist.
Konstant geblieben ist bei alldem dramatischen Auf und Ab stets das Gehämmere, Geklebe, Gestopfe, Geschneidere, Genagele und Gepresse in der Sattelfertigung – der Herzkammer des Unternehmens. Hier durchläuft jeder Sattel mehrere Schritte in der Produktion, bei der es Fingerspitzengefühl, Körperkraft und langjährige Erfahrung braucht. Zum Beispiel bei der Erstellung des komplexen Kopfeisens: Da es veränderbar ist, kann mit ihm derselbe Sitz optimal auf ganz verschiedene Pferdetypen angepasst werden. Für den gesamten PS-Sattelbaum sind 1.200 Arbeitsschritte notwendig. Und der natürlich gewachsene Rohstoff Rindleder kommt vorzugsweise von deutschen Viechern. Im Gegensatz zu denen in Süd- oder Nordamerika sind sie hierzulande geringeren Temperaturschwankungen ausgesetzt. Der Profi weiß dann, dass damit die sogenannte Losnarbigkeit des Leders sinkt. Der Laie spürt nur, dass es weniger „labbert“.
Den finalen „Ritterschlag“ erhält jeder Sattel in der Qualitätskontrolle, wenn ein Mitarbeiter die Verarbeitung vom Stiefelschutz bis hoch zum Sattelkranz überprüft. Dann bekommt das Produkt auch seine individuelle sechsstellige Nummer, geprägt unter das Sattelblatt, die ihn unverwechselbar macht. Anhand dieser Nummer lässt sich – wie bei Nummer 103 444 im Museum – nach Jahrzehnten noch nachvollziehen, wann der Sitz in welcher Ausführung gefertigt wurde.
Und so wie mancher Sattel inzwischen eine Antiquität ist, sind es auch die rustikalen Gerätschaften im Maschinenpark der Firma. Dirk Kannemeier greift daher sofort zu, wenn gebrauchte Werkzeuge und Apparate, zum Beispiel nach einer Geschäftsauflösung, auf dem freien Markt als Ersatzteillager zum Verkauf stehen. Im Notfall lässt er verschlissene Mechaniken sogar kostspielig nachbauen. Denn das ist das Problem mit der Qualität in dieser Welt. Nicht alles ist so langlebig wie die Produkte aus dem Hause Passier.