Ihre Kunst ist für den Augenblick und nicht für die Ewigkeit gemacht. Ihre Bilder aus Sand fließen elegant ineinander über, um danach im Nirgendwo zu verschwinden. Ihrem begeisterten Publikum erzählt die Performance-Künstlerin Anne Loeper so nicht nur emotionale Geschichten. Sie konfrontiert es auch mit verlorengegangen Werten wie Ruhe und der Schönheit einzigartiger Momente.
Es ein morgendliches Ritual, das Tausende von Frauen in Südindien seit Jahrhunderten pflegen. Wie sie es traditionell schon von ihren Müttern und Großmüttern gelernt haben. Vor ihrer Haustür bestreichen sie eine kleine Fläche mit Kuhdung, besprenkeln sie leicht mit Wasser, nehmen zwischen Daumen und Zeigefinger eine Handvoll weißes oder bunt gefärbtes Reismehl, lassen es langsam herunterrieseln und kreieren so aus zahlreich verbundenen Punkten und Linien symmetrische Muster und Ornamente. Die schönen Kolams, die dabei zum Vorschein kommen, fördern nicht nur Konzentration und Kontemplation. Angeblich schützen sie die Hausbewohner und signalisieren Besuchern ein herzliches Willkommen.
Und wer als neugieriger Reisender, wie die Künstlerin Anne Loeper, dabei auch noch beobachtet, wie die zarten Zeichnungen im Laufe des Tages durch eine leichte Windböe, einen ignoranten Rikschafahrer oder eine umherirrende Kuh zerstört werden, ahnt, dass sie auch noch eine andere symbolische Bedeutung haben: Der Mensch wird sich der Vergänglichkeit der Dinge bewusst. Und damit der Kostbarkeit des Augenblicks. Natürlich schaffen die Frauen am nächsten Tag ein neues Kolam. Das im hektischen Alltag ganz sicher das gleiche traurige Schicksal der Zerstörung teilt.
Auch bei der Performance-Kunst von Anne Loeper, die durch diese indische Tradition inspiriert wurde, entstehen Bilder aus feinem, kleinkörnigem Material. Bei ihr ist es Sand, aus dem sie Bilder schafft. Kurz vor Ende ihres Studiums an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst war Loeper noch dringend auf der Suche nach einem Thema für ihre Diplomarbeit. Sie empfand vor allem den Wunsch nach einer „tieferen und wahrhaftigeren Art und Weise, sich in Bildern auszudrücken“. In Indien stieß sie dann auf die Kolams – und war elektrisiert. „Ich hatte schon immer einer Affinität dazu, direkt mit den Händen zu malen“, so Loeper. „Irgendwann war dann für mich klar, dass ich das mit Hilfe von Licht und Gegenlicht auf einen Tisch übertrage und legte los.“
Sie holte sich zwei Holzböcke, platzierte eine Glasplatte darauf, einen Baustrahler darunter, legte Transparentpapier dazu, das das Licht diffuser verteilt. Eine Kamera darüber filmt Loepers Darbietung auf dem Glas, um den gesamten Prozess dann mit Beamer für ein Publikum auf die große Leinwand zu übertragen. „Es war einfach meine Technik“, so Loeper. „Von den Inderinnen habe ich ein Zweifingersystem gelernt, mit denen sie ewig lange Linien zeichnen können. Auch, wie man den Sand wirft, ist irgendwann nur eine Frage der Feinmotorik.“
Gar nicht begeistert, sondern enttäuscht reagierte ihr Professor, als er von den körnigen Diplomplänen hörte. Sein Kommentar: „Wie mit Sand? Das hast Du doch gar nicht bei mir gelernt?” Ihre Antwort: „Nein, aber das Erzählen.“ Schließlich steckte sie ihn an. Wie bereits andere Kollegen von Loeper schätzte er, wie zum Beispiel Schattierungen auf ganz einfache Weise entstehen. „Der Sand bringt das mit. Ich liebe dieses Medium, weil ich mit ihm noch nie an Grenzen gestoßen bin“, so Loeper.
Aber nicht nur künstlerisch hat sie seit dem auf Sand gebaut. Auch geschäftlich. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Kreativen verwandelt sie die Magie ihrer Bilder auch erfolgreich in bare Münze. In die Hamburger Elbarkaden strömt seit Wochen ein bunt gemischtes Publikum zu ihrer ausverkauften, rund 75-minütigen „Sand Malerei Show“. Loeper entführt die Menschen darin in Hamburgs Geschichte von 1860 bis heute. Sie inszeniert eine Art poetisches Mosaik, das von Veränderungen des Stadtbilds, den jeweilgen Zeitstimmungen und den unterschiedlichen Lebensgefühlen berichtet.
Auf ihrem Glaskasten beziehungsweise für alle im dunklen Saal sichtbar auf der Videoleinwand entstehen dann in Echtzeit ungewöhnliche Bilder. Wie durch Zauberhand gehen sie nahtlos ineinander über und verdichten sich zu charmanten wie stimmungsvollen Geschichten: Zu sehen sind ein Pärchen auf dem Jungfernstieg der Jahrhundertwende, Schiffe am Willkomm-Höft, der Fischmarkt, der Dom, ein Ruderboot nahe der Köhlbrandbrücke, Schlittschuhläufer auf der geschmückten Alster, aber auch Kriegswirren, unter denen die Hamburger litten.
Musik ist dabei ein weiteres wichtiges Element. Loeper spielt, singt und vertont sie vorher teilweise selbst. Oder nimmt regionale Geräusche, akustisches Lokalkolorit, vor Ort auf. Immer passend zur jeweiligen Erzählung. Zu hören sind dann vom Band ein schwungvoller Tango, der brüllende Aale-Dieter, Stimmengewirr von der Reeperbahn, die laute Hupe eines Dampfers oder Leierkastengedudel.
Ganz ungewöhnlich startet Loeper ihre Show jedoch mit klassischen Klängen aus einer Symphonie des Hamburgers Johannes Brahms. Unerwartet getragen klingen auch Sätze der „Hamonia“, der inoffiziellen Hymne von Hamburg aus dem Jahr 1828, die sie mit Zitaten einstreut wie „Heil über dir Hammonia. Stadt Hamburg, Vielbegabte, Freie. So reich an Bürgersinn und Treue, so reich an Fleiss und Regsamkeit“. „Die Leute rechnen nicht damit, dass ich in altdeutscher Sprache spreche“, sagt Loeper. „Und plötzlich werden sie inhaltlich mit Werten konfrontiert. Ich merke aber immer – da regt sich was. Sie nehmen das dankbar auf.“ Genauso wie die Ruhe. „Viele sind glücklich, dass sie nicht so zugeballert werden mit Informationen. Wie es sonst in ihrem Alltag passiert.“
Damit das lebendig scheinende Material Sand in seiner Bewegung die Seele der Künstlerin spiegelt und Emotionen weckt, braucht sie die volle Konzentration. „Jeder Handgriff muss ohne Patzer sitzen. Seit ich sande, trinke ich keinen Kaffee mehr, so dass ich nicht zittere. Gegen schwitzige Hände hilft Yoga”, so Loeper. Vor der Show zieht sie sich zudem auch räumlich in die Stille zurück. „Trete ich nach der Aufführung mit dem Publikum wieder in den Kontakt, muss ich im Kopf bewusst einen Switch machen.“
Für die Entwicklung einer kleinen Erzählung von zehn Minuten in Sand rechnet sie mit circa einem Monat Vorbereitung. Für die Show in Hamburg hat sie vorher gut ein halbes Jahr investiert. „Ich musste erstmal ein Gefühl für die Stadt bekommen, bin rumgelaufen, habe alles angeschaut, recherchiert, Leute befragt und skizzen gemacht. Danach gehe ich an den Tisch.“
Wie ein Illustrator setzt sie die Inhalte erst konzeptionell auf Papier um, Bild für Bild in einem Storyboard, das sie später praktisch in Sand zeichnet. „Ich stelle jedoch nicht nur frei wie andere, also ritze mit dem Finger in den Sand. Ich streue und streiche, arbeite mit Hell-Dunkel-Kontrasten und Schichten, damit die Bilder Tiefe bekommen. Das Sanden ist wie Malerei, aber gleichzeitig wie plastisches Formen.“ Meistens wischt sie ein Bild nicht weg, sondern lässt das vorherige stehen und ins nächste übergehen. „Das lieben die Leute.
Wichtig ist ihr während des Schaffensprozesses auch die Stille und Ruhe in ihrem Dreißigseelendorf bei Witzenhausen, wo sie mit ihrem Partner in einer grünen Idylle lebt. „Ich bin überzeugt, dass die aktuelle Show nicht so tief und ruhig wäre, wenn ich das Stück in Hamburg entwickelt hätte.“ Überzeugen musste sie auch zu Beginn den Veranstalter, der erst von schnelleren Bildwechseln ausgegangen war. „Aber ich habe ganz klar gewusst, dass sich niemand eine Stunde einen solchen Wahnsinn antut. Das Auge dreht sonst durch. In unserer schnelllebigen Zeit kann ein Stück auch mal langsam sein.“ Die meist ausverkauften Veranstaltungen geben ihr Recht.
Loeper sandet jedoch nicht nur Hamburgs Geschichte. Ihre Bilder finden sich in Liveprojekten mit Musikern, Theaterproduktionen, Musikvideos, Schulen, privaten Feiern wie Hochzeiten oder auf einem Filmfestival, wo sie einen Workshop für kleine Künstler organisierte: „Kinder lieben das. Aber auch viele Erwachsene, die es ausprobieren. Sie merken, dass man in Verbindung mit etwas steht und sieht, was auf einmal mit den eigenen Händen passiert. Das entspannt. Vor dem PC dagegen absorbiert man, hängt drin und ist nicht mehr da.”
Für Kunden fertigt Loeper auf Wunsch Auftragsarbeiten. Die sonst so lebendigen Bilder finden sich dann – wie im Schnappschuss eingefroren – auf Leinwänden, Textilien, Fotografien, hinter Akrylglas, auf PVC, Holz, Kunstdrucken, Glückwunsch- oder Postkarten wieder. Auch für eines ihrer nächsten Projekte hat sie ausnahmsweise mal zur Kamera gegriffen. Sie entwickelt gerade einen 90-seitigen Fotoband, für den sie in Südindien auf einer Reise die Vielfalt der Kolams festgehalten hat. Also irgendwie doch wieder Sand.
Und damit ihr der nicht ausgeht, steht wohl bald ein weiterer Trip an. Nach Zentralasien. Am häufigsten fragen ihre Zuschauer nämlich, welchen sie nimmt. „Ich habe ganz verschiedene ausprobiert. Der aus der Sahara ist nicht so geeignet, er ist zu hell. Der von der Nordsee noch heller und grobkörniger. Der Schwarze von Lanzarote wirkt sehr grafisch, wie bei harten Zeitungsbildern.”
Loepers Sand stammt aus der Wüste Gobi. Sie schätzt seine Sepiafarbe, die an das alte Fotoverfahren der Daguerrotophie erinnert. „Ich habe mir aus der Wüste vor vier Jahren drei Kilo mitgebracht. Für Nachschub muss ich jedoch bald wieder hin. Denn bei der Show greife ich schließlich immer voll rein und verteile den Sand gut an der Seite des Tischs.” Inzwischen ist ihr auf diese Weise Körnchen für Körnchen ein halbes Kilo verschütt gegangen. Irgendwie versandet.